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BeuteKunst I - "An Lenin habe ich mich nie vergriffen" 2012-01-05 – 11:25:58 Klaus Staeck im Gespräch mit Falko Hennig über Kirsten Klöckner, DDR-Kunst und-Kits

FH: Wann hast Du die DDR verlassen? Bist Du DDR-Mensch?

 

KS: Im tiefsten Kern meiner Seele bin ich das möglicherweise geblieben. Ich bin 1956 mit 18 Jahren aus der DDR geflüchtet. Mit Rücksicht auf meine Familie habe ich immer gesagt, ich sei "übergesiedelt". Das kann man bis heute in vielen meiner Biographien lesen. Meine beiden Brüder, meine Mutter, Großmutter blieben in der DDR. Mein Vater war schon 1949 in den Westen gegangen. Die Familie lebte getrennt. Aber das Schlimmste war für meine beiden Brüder, dass sie nach meiner Flucht von der Oberschule geworfen wurden. Die Begründung war, dass sie nach dem Abitur ja wahrscheinlich auch in den Westen gehen würden. Es war für mich eine große Belastung, für den Ausschluss meiner Brüder vom Bildungsweg verantwortlich gewesen zu sein. Sie haben es später mühsam über den zweiten Bildungsweg im Abendstudium zu Abschlüssen als Chemie-Ingenieure gebracht. Aber das war schon eine Bösartigkeit der DDR, die mich treffen sollte.

 

FH: Was waren die Gründe für die Übersiedlung?

 

KS: Für mich gab es in der DDR keine Perspektive. Ich muss da etwas weiter ausholen. In der DDR war ja alles geregelt. Das hatte auch Vorteile. In meinem Fall waren es Nachteile. Man musste ein halbes Jahr vor dem Abitur einen Fragebogen ausfüllen. Ich hatte als ersten Berufswunsch Filmregisseur in Babelsberg angegeben. Das wurde gar nicht erst weitergereicht. Der zweite Wunsch war ein Architektur-Studium in Weimar. Dort war ich auch zu einer Aufnahmeprüfung. Und hatte das Pech, im Nachhinein war es mein Glück, in einem Nebenraum der Prüfungskommission meine politische Beurteilung mit an zu hören, die der FDJ-Sekretär der Schule im Lauf der Jahre zusammengeschrieben hatte. Die Einschätzung war verheerend. Da waren alle Verfehlungen aufgelistet, angefangen von meinem Verhalten am 17. Juni 1953. Ich wusste, in diesen Raum brauche ich gar nicht erst hineinzugehen. Da war für mich bereits entschieden, dass ich nicht studieren darf.

 

FH: Man tut der DDR-Kunst oder dem DDR-Kunstgewerbe wohl nicht unrecht, wenn man feststellt, dass Bilder und Statuen von Lenin, Marx, Thälmann einen Großteil der Produktion ausmachten. KS: Jedenfalls einen schon erkennbaren Anteil. Ich bin ja mit all diesen Arbeiten des sozialistischen Realismus groß geworden.

 

FH: Hast Du Dich selber mal an einem Lenin-Bild versucht?

 

KS: Nur einmal indirekt. Als Leiter der Arbeitsgemeinschaft Kunst unserer Schule suchte ich eines Tages eine stabile Pappe, um für eine Theateraufführung einen improvisierten Vorhang zu basteln. Auf dem Dachboden der Schule wurden wir fündig in Form eines großen Lenin-Transparents, sägten es in Halshöhe durch und schrieben auf den einen Teil VOR und den anderen HANG, vergaßen aber, den Lenin zu übertünchen. Als sich während der Aufführung die Teile an der Wäscheleine zu drehen begannen, gab es einen Riesenskandal. Ich war damals 16. Als Verantwortlicher hatte ich von diesem Tage an einen noch schwereren Stand. Darüber hinaus habe ich mich nicht an dem Genossen Lenin vergriffen. Ich habe mich mehr an Schiller und Heinrich Heine gehalten. Anlässlich einer Schiller-Feier und einer Heine-Veranstaltung habe ich große Porträts gemalt. Außerdem erinnere ich mich an ein Aquarell "Eisengießer mit Schöpfkelle vor Hochofen". Kürzlich fiel mir ein Linolschnitt "Industrielandschaft mit Schornsteinen und Kühltürmen" aus dem Jahr 1955 wieder in die Hände. Das waren meine Beiträge zum sozialistischen Realismus. Meine Heimatstadt Bitterfeld war ja zu DDR-Zeiten einer der härtesten Industriestandorte. Da lag es nahe, sich dieser Themen anzunehmen. Mir wurde erst später bewusst, dass ich von John Heartfield, der ja während meiner Schulzeit in der DDR lebte, nichts gehört hatte. Er galt damals noch in weiten Teilen der offiziellen DDR_Kunstgeschichtsschreibung als Formalist und kam deshalb im öffentlichen Bewusstsein und meinen Lehrbüchern nicht vor. Ich habe erst im Westen durch ein Buch seines Bruders Wieland Herzfelde von Heartfields Existenz erfahren.

 

FH: Als ich, Jahrgang 1969, in den späten 1970er Jahren zur Schule ging, war Heartfield allgegenwärtig, seine Plakate und Grafiken waren in den Geschichtsbüchern und hingen im Treppenhaus.

 

KS: Während meiner Schulzeit war von ihm jedenfalls nicht die Rede. Er hat übrigens während seiner DDR-Zeit wenig Neues geschaffen: ein paar Buchumschläge, wenige Plakate.

 

FH: Seine große Zeit waren die 1920er Jahre. Was hat ihn in der DDR gehindert?

 

KS: Gehindert hat ihn die damals herrschende offizielle Kulturpolitik. Er galt nun einmal als Formalist ohne das entsprechende Klassenbewusstsein. Zwar waren Kommunisten wie Heartfield aus dem Exil voller Enthusiasmus mit großen Erwartungen an den Aufbau eines neuen Gesellschaftssystems in die DDR gegangen. Die Führung unterschied jedoch zwischen den Ost- und den Westemigranten. Letztere standen unter einer Art Generalverdacht. Dennoch hatten die meisten Rückkehrer den Status des offiziell anerkannten Antifaschisten mit einer speziellen Förderung und Rente. Das sagt aber nichts aus über ihre Arbeitsbedingungen. John Heartfield selbst habe ich nie kennengelernt, wohl aber seinen Bruder Wieland Herzfelde. Ihn habe ich oft besucht. Er war jemand, der zwischen Enttäuschung und Erwartung hin und her schwankte. Ich habe diese Gespräche teilweise auf Tonband aufgezeichnet. Er konnte oft scharf gegen die DDR und ihre Bürokratie agieren und gegen alles wettern, was falsch lief. Aber irgendwann, wenn er sich zu sehr in Rage geredet hatte, sagte er plötzlich unvermittelt mitten im Satz: "Aber die große sozialistische Oktoberrevolution war doch ein großer Schritt für die Menschheit!" Wer will sich schon im Alter von 70+ eingestehen, dass vieles, wofür er ein Leben lang gekämpft und gelitten hat, möglicherweise ein Irrtum war.

 

FH: Zum Glück kann uns das nicht passieren, weil wir die große sozialistische Oktoberrevolution nicht zur Basis unseres Lebens gemacht haben.

 

KS: Richtig. Aber was ich sowohl der Sowjetunion als auch der DDR bis heute vorwerfe, sie haben aus einem Menschheitstraum, dem Wunsch nach Frieden, der Hoffnung auf Gerechtigkeit und Gleichheit der Lebenschancen, eine Praxis entwickelt, die bis heute die meisten Menschen zu Recht abschreckt.

 

FH: Man kann es relativieren, weil die Verwirklichung der marxistischen Ideale in vielen Ländern und ganz unterschiedlichen Kulturen nicht die Erwartungen und Hoffnungen erfüllte.

 

KS: Der Versuch, in Deutschland einen von der Mehrheit der Menschen akzeptierten Sozialismus aufzubauen, endete jedenfalls in einem ziemlichen Desaster. So habe ich auch meinen frühen Weggang aus der DDR nicht einen einzigen Tag bereut.

 

FH: Wie schätzt Du die Kunst ein, die unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstand?

 

KS: Ähnlichkeiten mit der Nazi-Kunst gab es allenfalls bis zum Tode Stalins 1953. Er war es ja auch, der Arno Breker gleich nach Moskau einlud, um dort weiter zu arbeiten. Ich habe mich intensiv mit Breker, dem Lieblingsbildhauer Adolf Hitlers beschäftigt. Er war der Profiteur des Unterdrückungsapparates der Nazis. Mit seinen heroischen Plastiken hat er einem Menschenbild Form gegeben, dem man das hässliche, entartete und damit unwerte Leben gegenüberstellen konnte. Zwar gibt es Traditionen und historische Linien, denen er gefolgt ist. So gab es in den 1920er und 1930er Jahren nicht wenige Künstler, die ähnlich gearbeitet haben. Aber Breker wurde zum Dekorateur einer brutalen, menschenverachtenden Diktatur, in der zum Beispiel Behinderte keinen Platz mehr hatten und der Euthanasie zum Opfer fielen. Breker hat übrigens nach 1945 in Westdeutschland im gleichen Stil bruchlos weiter gearbeitet, ohne allerdings bis heute Eingang in den offiziellen Ausstellungsbetrieb zu finden. Er hat zahlreiche Wirtschaftsbosse wie Hans Gerling und das Ehepaar Ludwig – die ja ironischerweise früh zu Sammlern von DDR-Kunst wurden - , sowie Politiker von Konrad Adenauer über Ludwig Erhardt bis Leopold Senghor porträtiert. Im Übrigen wurde vor allem im Westen viel experimentiert und nachgeholt, was im Nationalsozialismus als verboten galt. So wurde besonders die Abstraktion weiter entwickelt, die nichtgegenständliche Kunst gefeiert, während im Osten nach Gründung der DDR bald die Doktrin des Sozialistischen Realismus zur Staatskunst erhoben wurde. "Die" DDR-Kunst hat es nie gegeben. Ich nenne nur Herrmann Glöckner, Carlfriedrich Claus, Strawalde und A.R. Penck, die ganz eigene Wege gingen. Es gab die Untergrund-Kunst, die Samisdat-Ausgaben, Mail-Art. FH: Und wie sollte man deiner Meinung nach mit den DDR-Künstlern umgehen, die auch Staatskünstler waren, damit einer Diktatur dienten? Ich erinnere mich an Willi Sitte, der sehr hoch geschätzt wurde von der offiziellen DDR-Kulturpolitik. KS: Es gab die sogenannte Viererbande: Sitte, Heisig, Mattheuer und Tübke. Sie waren sogar einmal auf einer Dokumenta vertreten, woraufhin einige Künstler wie Baselitz und Lüppertz ihre Bilder zurück zogen. Aber selbst diese vier unterscheiden sich doch deutlich in ihrer Arbeitsweise. Mattheuer hat den "Menschheitsschritt" geschaffen, Heisig Helmut Schmidt portraitiert, Tübke dieses gigantische Panorama in Frankenhausen geschaffen. Daran sieht man schon, dass es keine einheitliche Bewertung eines Künstlers geben kann, der seine Werke unter anderem an staatliche Organisationen verkauft hat. Was ich der DDR-Führung vorwerfe: Sie hat eine Kunstrichtung zur offiziellen Staatsdoktrin erhoben und damit zur Voraussetzung für die Aufnahme in den Künstlerverband gemacht. Diese Mitglieder hatten den Vorteil, dass sie immer mal wieder ein Bild ablieferten und dafür ein anständiges Honorar bekamen. Der Lebensunterhalt war für diese Künstler auf diese Weise garantiert. Beeskow ist voll solcher Bilder, die von unterschiedlichen Institutionen der DDR angekauft worden sind. Aber wenn wir ernsthaft über Kunst reden, dann legen wir doch andere Maßstäbe an. Danach ist ein großer Teil der Bilder, die in der DDR auf diesem Wege in irgendwelche Betriebe gelangt sind nicht so wichtig, dass man sich länger damit auseinandersetzen möchte. Interessante Beispiele gibt es übrigens in der Fotografie.

 

FH: Aber bei der Fotografie hat man ja in der DDR auch die verschiedenen Richtungen. Zum einen Propagandafotografie, die das heroische zeigte.

 

KS: Zum Beispiel die martialischen Auftritte alter Knacker, wenn ich an die Kampftruppenfotos denke.

 

FH: Und dann gibt es die normalen Fotos aus den Familien. KS: Und es gibt auch die Fotos von der FKK-Bewegung in der DDR.

 

FH: Sehr interessante Sachen.

 

KS: Bürgerliche Freizügigkeit und Spießigkeit, eine besonders aparte Mischung.

 

FH: Ja, und gerade die Freikörperkultur hat ja ihre Wurzeln in Jugendstilbewegungen in den 20er Jahren bis hin zu dem Surén, einem hohen Nazi, der ein großer Vertreter der Freikörperkultur war. Der ölte sich immer ein und hatte dann so Bildtafeln in seinen Büchern. Hitler war ein großer Fan von ihm. Der wurde dann aber wegen öffentlichen Masturbierens aus der NSDAP ausgeschlossen. KS: Ich komme ja aus Bitterfeld, jenem Ort mit der damals höchsten Luftverschmutzung und eng verbunden mit dem Bitterfelder Weg. FH: Das war eine Konferenz, bei der Intellektuelle sich trafen?

 

KS: Es gab zwei. Die erste wurde 1959 vom Mitteldeutschen Verlag organisiert unter dem Motto "Greif zur Feder, Kumpel - die sozialistische Nationalliteratur braucht dich." Der Grundgedanke war ja nicht schlecht: die arbeitende Bevölkerung an die Kultur heranzuführen. Aber nicht bloß als Konsumenten, sondern sie anzustiften, selbst kreativ zu werden. Allein im CKB (Chemiekombinat Bitterfeld) gab es 41 verschiedene Zirkel, in denen fotografiert, geschrieben, gemalt wurde. Leider ist nur der Malzirkel des Künstlers Wolfgang Petrowsky nach der Wende übrig geblieben. 1964 gab es die zweite Bitterfelder Konferenz. Jetzt hielt schon Walter Ulbrich eine Grundsatzrede. An dem Kulturpalast, in dem die beiden Konferenzen stattfanden, hatte ich als Schüler meine "Aufbauschichten" geleistet. Ich hatte immer die Vorstellung, dass ich eines Tages die Dritte organisieren würde. Und nachdem die Mauer gefallen war habe ich Eugen Blume und Christoph Tannert angestiftet, 1992 mit mir gemeinsam die dritte Bitterfelder Konferenz in jenem Kulturpalast zu organisieren. Parallel fand in der Galerie im Ratswall eine Ausstellung statt, in der auch Kirsten Klöckner mit einem Landkartenbuch vertreten war. Felix Droese war mit einem riesigen Kahn in einem Container gekommen. Teilnehmer der Konferenz waren unter anderen Erich Loest, Werner Haiduczeck und Wolfgang Thierse. Heinz Czechowski erinnerte an ein Gedicht von Sarah Kirsch: "Zieh Traktor zieh, wir sagen nicht mehr Hüh!". Haiduczeck wedelte mit einem kleinen Heftchen, mit dem Titel "demnächst im Lexikon?" herum. Es war voller proletarischer Lebensläufe von später bekannten Künstlern. Ich hatte übrigens eine Großmutter, die gern dichtete. Die örtliche SED-Bezirkszeitung "Freiheit" schrieb regelmäßig Wettbewerbe aus, die auch von meiner Oma beschickt wurden. Eines ging so: "Dort wo der Dreck vom Himmel fällt, da ist Bitterfeld."

 

FH: Das ist doch schön. Das wurde nicht abgedruckt?

 

KS: Nein, es wurde nie etwas abgedruckt. Jedenfalls war sogar meine Großmutter von dieser Bewegung angesteckt. In der Volksseele wabert viel. Warum sollte man den Menschen nicht - ganz im Sinne von Joseph Beuys - Mut machen, ihren Gedanken und Gefühlen eine Form zu geben? Es muss doch nicht alles gleich große anerkannte Kunst sein!

 

FH: Ich halte das für einen sehr reizvollen Gedanken. Weil ich mit einem Kollegen gerade ein Buch geschrieben habe das nur aus Dokumenten eigentlich unbekannter Menschen besteht.

 

KS: Oder Tagebücher - denk an Kempowski. Er hat tausende Äußerungen gesammelt von Menschen , die gar nicht den Anspruch erhoben haben, Künstler zu sein.

 

FH: Aber wenn man dann vergleicht gerade bei Kempowski, was der Großdichter des dritten Reiches Hans Friedrich Blunck geschrieben hat im Gegensatz zu anonymen Leuten, da ist es unfassbar wie sehr der Berufsdichter daneben lag in seiner gesamten Einschätzung und wie korrekt es die ganz normalen Leute beschreiben konnten was passierte.

 

KS: Der Grundgedanke des Bitterfelder Weges ist leider in eine doktrinäre Falle geraten, der schwer zu entkommen ist. Aber jeder, der sich als Künstler verwirklichen wollte, hatte die Wahl: bleibt er in dieser Falle oder verlässt er sie, entweder durch Flucht in den Westen oder er musste abseits der offiziell verordneten Kultur sein Dasein organisieren.

 

FH: Droht Kirsten Klöckner jetzt auch in diese doktrinäre Falle zu tappen durch ihre Beschäftigung mit dieser Kunst oder Nichtkunst der DDR?

 

KS: Was sie macht, ist ja geradezu ein Befreiungswerk. Sie befreit diese zum großen Teil doch recht traurigen Bilder aus ihrem Gefängnis. Indem sie Details herausnimmt und aus den Details neue Bilder schafft. Es gleicht einer Schatzsuche. In jedem Bild ist etwas Sehenswertes verborgen. Wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen, kann man eigentlich in jedem Bild etwas finden . Ich selbst benutze beispielsweise für meine Collagen gern diese "Hand und Fußmalerkalender" als Fundgrube.

 

FH: Sehr schön. Die malen viel besser als die meisten richtigen Künstler.

 

KS: Das halte ich für einen Irrtum. Aber was heißt denn besser? Sie malen gegenständlicher. Aber die Kunst will ja nicht bloß die Gegenwart abbilden, sondern einen Schritt weiter gehen und beim Betrachter etwas in Gang setzten, das zu eigenen Erkenntnissen führt. Kirsten schafft es, wenigstens Details dieser Werke ein Überleben zu sichern. Sie geht wie eine Ausgräberin an die Arbeit. Es verhält sich ähnlich mit der Leidenschaft fürs Pilze-Sammeln. Man muss ein Auge dafür haben. Manche finden nie einen Pilz. Ich weiß dagegen, unter welchem Blätterdach ich suchen muss, um fündig zu werden.

 

FH: Man muss ja auch die Stellen kennen.

 

KS: Ja. So verstehe ich ihre Arbeit. Diesen doch oft recht toten Bildern wieder Leben einzuhauchen. Nicht um das Bild zu retten, das kann man nicht. Sie bedient sich im Steinbruch. Die Kunstgeschichte wird von vielen Künstlern als Steinbruch genutzt. Sie nimmt ja nicht nur ein Stück heraus, sondern verwandelt es. Sie hat zum Beispiel eine äußerst populäre Arbeit von Picasso vervollständigt. Eine kühne Idee.

 

FH: Vielleicht können wir mal ein Beispiel anschauen. Da sehe ich die berühmte viereckige Milchtüte.

 

KS: Die Künstlerin heißt Barbara Müller.

 

FH: Ich muss sagen, das kannte ich vorher noch nicht.

 

KS: Ein freundliches Bild. Kirsten Klöckner hat es wohl in Beeskow im Archiv entdeckt.

 

FH: Da ist das Netz. Wenn die Grünen tatsächlich das Plastetütenverbot durchsetzen, dann brauchen wir die wieder.

 

KS: Die Tüte soll 25 Cent kosten. Ein Verbot ist das noch nicht.

 

FH: Das wäre nur eine Preiserhöhung. KS: Aber der erste Schritt zum Verbot. Es gab ja schon mal so Wellen. Irgendwann liefen viele mit Jutetaschen herum. Ich auch. Bis man feststellte, dass diese Jutetaschen leider sehr pestizidbelastet waren. Dann verschwanden sie wieder.

 

FH: Wo gehobelt wird fallen Späne.

 

KS: Das Netz hat als Klassiker überlebt. F

 

H: Man musste es dabei haben weil man nie wusste, wann man wo eventuell etwas bekommt, was man brauchen kann.

 

KS: Plastiktüten gab es kaum.

 

FH: Irgendwann gab es diese Einkaufsbeutel aus Kittelstoff.

 

KS: Für mich war das Netz ein Zeichen für die DDR. Diese Milchtüte kenne ich auch noch. Hier ist es kein unwesentliches Detail. Im Westen gab es diese Verpackung übrigens auch, für Sunkist, einen Orangensaft. Ohne die Milchtüte wäre es kein Bild.

 

FH: Eine politische Aussage lässt sich schwer finden.

 

KS: Das ist eines dieser freundlichen Bilder, von denen es viele zum Thema Alltag gibt.

 

FH: Wobei es da auch kritische Bilder gab. Ich erinnere mich an "Porträt nach Dienst" von Horst Sakulowski, da saß eine Ärztin völlig ausgepowered auf einem Stuhl und das Telefon klingelte in ihrem Kopf weiter - das war dann schon ein sehr kritisches Bild. KS: Immerhin nah an der Grenze. Das mit den Tassen ist für mich ein recht trauriges Bild. Hier schaut uns doch nun gerade nicht der stets fröhliche sozialistische Mensch an. Es ist ein Bild von Jost Braun und zeigt Ramona Gailus, Textilarbeiterin und Friedensaktivistin. Sie soll den Slogan "der Friede muss bewaffnet sein" erfunden haben.

 

FH: Der Slogan stammt eigentlich von Wilhelm Busch aus dem Gedicht vom Fuchs und dem Igel. Der Fuchs kommt zum Igel und sagt: Es gibt einen großen Friedensvertrag, deshalb musst du dein Stachelkleid ablegen. Da erwidert der Igel: Lass dir erst deine Zähne brechen, dann wollen wir uns wieder sprechen. Das Bild erinnert mich an die von Michael Sowa.

 

KS: Zu DDR-Zeiten gab es alle vier bis fünf Jahre die "Kunstausstellungen der DDR" in Dresden. Ich erinnere mich an einen großen Streit um ein Bild von einer Aktivistenfeier. Die Akteure machten den Eindruck, als seien sie alle total betrunken. Das Bild sollte aus der Ausstellung entfernt werden. Der Aktivist hatte schließlich heroisch zu sein. Sonst nichts. Das war ja das Problem der DDR. Es gab immer zwei Versionen. Während meiner Schulzeit wussten wir ganz genau, was der Lehrer hören wollte. So haben wir uns oft einen Spaß daraus gemacht. In meinen Aufsätzen siegte am Ende immer die ruhmreiche Sowjetunion, ob es nun passte oder nicht. Das kam gut an. Nie wurde jemand dafür gerügt. Aber es war einfach Schwindel. Es gab immer diese parallelen Welten. Privat geht vor Katastrophe! Als es einmal im Bitterfelder CKB ein großes Explosionsunglück gab, zeigte sich die menschliche Natur von ihrer düstersten Seite. Einige haben das allgemeine Chaos genutzt, um zu stehlen. Sogar der Spind eines meiner Brüder, dem beide Beine verätzt waren, war aufgebrochen und die Wertsachen gestohlen worden.

 

FH: Ich glaube das ist passiert, weil Walther Ulbricht gesagt hatte: "Aus unseren volkseigenen Betrieben lässt sich noch viel mehr herausholen".

 

KS: Wenn meine Brüder über die DDR erzählten, geht es fast immer um eine andere DDR, als jenes Land, das uns in diesen Bildern begegnet. Das Portrait von Ramona Gailus ist immerhin schon im Zwischenreich der beiden Wirklichkeiten der DDR angesiedelt.

 

FH: Das hat eher etwas von Michael Sowa oder Magritte. Es ist sehr traurig, ich glaube, weil sie grad nicht rauchen darf. Der Aschenbecher ist so leer.

 

KS: Das Bild ist 1985 entstanden. Wenn Parteileute die Auftraggeber waren, weiß ich nicht, ob sie zufrieden waren, es gut fanden. Ramona Gailus erkennt man jedenfalls gut mit ihrer unglücklichen Frisur. Ein Hauch von Melancholie umweht dieses Bild.

 

FH: Ich finde es surreal. Aber die Tischdecken waren nie so weiß. Sie waren in der DDR immer voller Flecken. Kaffee. Zigarettenkippen. Und die Wände waren auch nicht so, die waren eher so gelblich vom Nikotinfilm. Es durfte überall geraucht werden.

 

KS: Auch wenn ich mich diesem Pauschalurteil nicht anschließen kann, man glaubt zu wissen, wie es da gerochen hat.

 

FH: An "Der Friede muss bewaffnet sein" erinnere ich mich sehr gut. Das macht mich neugierig. Da würde mich die Geschichte von Ramona Gailus sehr interessieren.

 

KS: Die Geschichten hinter den Bildern sind spannend. Kirsten Klöckner arbeitet wie eine Archäologin. Das heißt, dass sie jedes Bild erst mal ernst nimmt.

 

FH: Sie nimmt es nicht als scherzhaft wahr.

 

KS: Richtig. Was passiert da eigentlich? Eine optimistische Zukunftsperspektive sieht anders aus. Der strahlende Sozialismus schaut uns hier nicht an. Eben höchstens in Form der Tassen. Und da wird es spannend.

 

FH: Aber die gab es gar nicht.

 

KS: Mag sein. Aber sie symbolisieren die Möglichkeiten. Hier fängt eben die Kunst wieder an.

 

FH: Vielleicht gibt es diese Tassen doch? Aber ich habe sie weder in der DDR jemals gesehen noch seither auf Flohmärkten - und die habe ich alle gesehen.

 

KS: Wenn es diese Tassen real nicht gegeben hat, dann offenbar doch als Glücksversprechen, als Wunschvorstellung in der Phantasie der Künstlerin. Für mich verkörpern sie hier das Prinzip Hoffnung. Vielleicht hat sie deshalb genau diese Tassen gewählt. Sie hätte es ja auch bei dem traurigen Aschenbecher bewenden lassen können. Die Tassen sind die Perspektive, die aus dem Bild herausführen. Auch der Sozialistische Realismus hat –zumal ab den beginnenden 70er Jahren - einen Spalt offen gelassen für eine andere Sicht der Welt. Dafür steht dieses Bild, wenn man sich ernsthaft damit beschäftigt, wie Kirsten Klöckner das getan hat.


www.falko-hennig.de

www.edition-staeck.de

Foto: Kirsten Klöckner 2011 - Falko Hennig und Klaus Staeck im Atelier von Kirsten Klöckner am 3.12.2011 in Berlin


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